Der Mann auf der Bank

 

Es regnete. Es war ein übellauniger Oktobertag, nicht die Sorte, die man gerne hat. Kein Altweibersommer, keine von der Sonne angestrahlten Spinnweben zwischen den Bäumen kunstvoll drapiert. Ich setzte mich auf die gleiche Bank, im gleichen Park, wie ich es seit nun dreiunddreißig Jahren nach meiner Arbeit tat. An Tagen wie diesem waren hier nur wenige Menschen unterwegs.

 

Da war die junge Frau mit ihrem Dackel, die jeden Tag ihre Runde drehte. Wie jeden Tag ging eher der Dackel mit ihr spazieren, als umgekehrt. Sie schimpfte mit ihrem unwilligen Hund, der lustig munter an der Leine zog, im Zick-Zack durch Pfützen rannte und dann wütend etwas im Gebüsch anbellte. Ein Kind, das mit gelben Gummistiefeln an ihnen vorbei lief, lachte laut. War die Frau mit dem Dackel lustig?

 

Ich sah nach oben in den grau bedeckten Himmel. Mein Chef hatte mir heute erklärt, dass ich die Beförderung nicht erhalten würde. „Wieso?“, hatte ich mit ruhiger Stimme gefragt.

„Wieso? Ja, das wüsste ich auch gerne“, hatte er mir verwirrend zur Antwort gegeben.

„Aber Sie bestimmen das doch.“ Ganz entfernt färbte Verwunderung meine Aussage.

„Die Frage ist nicht, wieso ich Ihnen die Beförderung nicht gegeben habe, Herr Jäger. Die Frage ist, wieso wollten Sie sie nicht?“

„Aber“, protestierte ich.

„Denken Sie darüber nach, Herr Jäger. Wieso werden Sie seit zehn Jahren übergangen? Sie leisten gute Arbeit. Aber ihnen fehlt der Wille, oder vielleicht sollte ich sagen, die Leidenschaft?“

Ich verstand nicht, was er von mir wollte. Tag für Tag ging ich ins Büro, war immer pünktlich, immer freundlich. Ich erledigte meine Aufgaben. Was sollte denn da fehlen?

 

Es war ein kleiner Park, ein paar Bäume, Wiesen, hübsch angelegte Blumenbeete, das war es im Grunde. Warum ich mich jeden Tag auf die rote Bank setzte, wusste ich nicht. Ich hatte einmal damit angefangen und dann nie wieder aufgehört. Zu Hause gab es weder Tier noch Mensch, der auf mich wartete, also blieb ich nach der Arbeit für genau eine Stunde hier. Jeden Tag eine Stunde frische Luft, für die Gesundheit. Danach erledigte ich die Einkäufe oder andere Besorgungen, kochte mir ein Essen, aß zu Abend und sah mir die Tagesschau an.

 

Ich sah sofort, wenn jemand den Park betrat, der nicht regelmäßig hierher kam, wie die Frau mit dem Dackel. Heute ging ein junges Pärchen durch den Regen. Sie blieben fast genau vor mir stehen und ich hörte ihr Kichern, ihr Flüstern. „Ich liebe dich“, sagte die Frau. Eine kurze blonde Schönheit, die sich selbst mit ihren acht Zentimeter langen Absätzen zu ihm hoch recken musste. Er trug eine von diesen Kappen, die neuerdings nicht mehr richtig auf den Kopf gesetzt wurden, sondern den Kopf nur leicht berührten. Brauchte er die zusätzliche Luft zwischen Kopf und Kappe? Es sah selten dämlich aus.

 

„Junge Liebe, was?“, erklang eine Stimme direkt neben mir. Überrascht blickte ich zur Seite und sah eine Frau, eine sehr hübsche Frau, die sich neben mir auf die Bank fallen ließ. Sie war noch nie hier gewesen, nicht zu dieser Zeit. Ich hörte auf, sie anzustarren, weil das unhöflich gewesen wäre und entgegnete: „So ist es wohl.“ Ich senkte den Kopf, es war etwas merkwürdig, dass da jetzt jemand neben mir war. Das hatte dreiunddreißig Jahre lang keiner getan. Sie blieb stumm, aber saß weiter neben mir. Schließlich war meine Stunde um, ich stand auf, murmelte ein höfliches „Auf Wiedersehen“ und ging nach Hause.

 

 

Am nächsten Tag war der Himmel immer noch bewölkt, doch der Regen hatte aufgehört. Frauchen mit Dackel turnte vorbei, ein kleiner Vogel hüpfte auf der Wiese vor mir hin und her. Dann kam die Frau von gestern wieder und setzte sich neben mich. „Guten Tag“, wünschte sie freundlich. „Guten Tag“, antwortete ich ihr.

So saßen wir da, bis meine Stunde um war. „Auf Wiedersehen“, verabschiedete ich mich. Sie sah mich an und lächelte. „Auf Wiedersehen.“

 

Am nächsten Tag vertrieb ein starker Wind die Wolken, so dass hier und da ein blauer Fleck am Himmel erschien. Die Frau mit dem Dackel war noch nicht da gewesen, da kam die Dame von den letzten zwei Tagen herbei und setzte sich neben mich. Sie trug die gleiche hellgrüne Regenjacke, wie zuvor, bemerkte ich. Ich grüßte sie freundlich: „Guten Tag.“ Wieder zeigte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht. „Guten Tag.“ Eine Weile saßen wir so da. Der Dackel kam mit seinem Frauchen und ging vorbei. Eine Mutter mit Kinderwagen spurtete den Weg entlang. Plötzlich begann die Frau neben mir zu summen. Es war ein Stück aus dem Nussknacker. Ihre Stimme klang lieblich dabei. Die Stunde verging. Ich stand auf. „Auf Wiedersehen.“ Sie unterbrach ihr Summen. „Auf Wiedersehen.“

 

Der Altweibersommer war doch noch gekommen. Es war warm, als ich von der Arbeit in den Park ging und mich auf die rote Bank setzte. Die Frau mit dem Dackel kam vorbei, erstaunlicherweise spazierten beide heute recht ruhig nebeneinander her. Mein Herz schlug schneller, als die Frau in ihrer grünen Jacke erschien und sich neben mich setzte. Sie lächelte: „Guten Tag.“ Ich reichte ihr die Hand. „Guten Tag.“ Ihre Hand war warm, die Fingernägel rot lackiert. Wir saßen nebeneinander und sie begann aus dem Nussknacker zu summen. Zaghaft sah ich sie an, und stimmte mit ein. Als die Stunde um war, blieb ich neben ihr sitzen. Ich lächelte und ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus. Es war neu. Ich glaube, es war Glück.

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Ben Froehlich (Sonntag, 27 August 2017 23:39)

    Zauberhafte Liebesgeschichte, die einige Fragen offen lässt und sich deswegen nicht schuldig oder schlecht fühlen sollte. Eine Frage zum ersten Absatz: dort steht etwas von dreiunddreißig Tagen, das sollten Jahre sein, so wie es später geschrieben wird oder?

    Vielen Dank für den schönen Text zum Sonntagabend,
    Ben

  • #2

    Eva von Kalm (Montag, 28 August 2017 06:29)

    Hallo Ben,
    Du hast natürlich völlig recht, es muss seit 33 Jahren heißen. Habe es geändert.
    Ich freu mich, dass dir der Text gefällt.
    Vielen Dank für deine Rückmeldung
    Eva