Nur Tinte

Zitternd hielt sie das Buch in ihrer Hand fest, schweißgebadet. Ihr Herz raste. Es war schwer sich zu lösen, so viele Gedanken rasten durch ihren Kopf, lieferten sich ein tödlicheres Rennen, als jegliches mörderische Podrennen je sein konnte. Die Gedanken prallten gegen die Wand aus Emotionen, die in ihr vulkanartig ausgebrochen waren, als sie das letzte Kapitel gelesen hatte.

Unwillkürlich fiel ihr ein Gespräch ein, das noch gar nicht so lange zurücklag. Eine Diskussion, die sie wieder und wieder mit ihrer Freundin geführt hatte. Das letzte Mal waren ihre aufeinanderprallenden Meinungen in einen widerlichen Streit umgeschlagen, der dazu geführt hatte, dass sie Maja eine ganze Woche nicht gesehen oder von ihr gehört hatte.

 

Anne sah hinunter auf das Buch in ihrer Hand und klappte es verwirrt zu. Wie war es möglich, dass ein bisschen Tinte auf Papier solche Macht besaß? Es war nicht das erste Buch, dass sie je gelesen hatte, nein, sie gehörte zu den Menschen, die Bücher immer und immer wieder verschlangen, sie fraßen, wie eine Raupe Nimmersatt, aber so etwas wie heute, das war ihr noch nicht widerfahren. Es ließ sie entsetzt und aufgerüttelt zurück.  Eklig war ihr zumute. Obwohl sie heute schon geduscht hatte und es auch kein heißer Sommertag war, an dem jeder gerne eine zweite, wenn nicht sogar eine dritte Dusche  genoss, schleppte sie sich ins Badezimmer und zog sich aus. Sie drehte den Heißwasserhahn auf und ließ ihn eine Weile laufen, damit das Wasser sich aufwärmte. Dann stieg sie hinunter und ließ das Wasser auf sich drauf prasseln.

Als wäre sie selber gerade vergewaltigt worden, spürte sie den Schmutz auf ihrer Haut. Anne seifte sich wieder und wieder ein, doch es verschwand nicht, denn die Gefühle saßen tief in ihr drin. Sie war ja schließlich nicht vergewaltigt worden. Wie sollte man den Dreck von etwas herunterbekommen, das überhaupt nicht passiert war. Sie schauderte und beendete die nicht helfende Säuberung.

 

Zitternd stakste sie aus dem Glaskasten heraus und trocknete sich die Hände, bevor sie, immer noch tropfend, ihr Handy in die Hand nahm. Es tut mir so leid, tippte sie mühsam ein. Jetzt habe ich es begriffen. Sie drückte auf Senden.

Getrocknet und angezogen stiefelte sie in ihre Küche um sich einen heißen Kakao zu machen. Er wärmte die kalten Finger, die klammer waren als in einer feuchtnebligen Novembernacht. Draußen schien die Sonne. Es überraschte Anne, die immer noch nicht fassen konnte, in ihrem eigenen Körper, in ihrem eigenen Leben zu stecken. Niemals würde sie diese Dinge vergessen, sie hatten sich eingebrannt, als wären sie eigene Erfahrungen. Tränen liefen ihr Gesicht hinab.

 

Ein Schlüssel drehte sich in der Tür, doch wie in Trance bekam Anne das nicht mit. Der Kakao in ihrer Hand war das einzige, das sie aus dieser Realität gerade wahrnahm. Plötzlich wurde ihr die Tasse aus der Hand genommen,  und sie hochgezogen und in den Arm genommen.

„Hast du es wirklich verstanden?“

Sie öffnete ihre Augen und sah Maja vor sich stehen. Noch immer benommen küsste sie sie auf den Mund und nickte.

„Ich kann gar nicht mehr glauben, dass  ich es je in Zweifel gezogen habe“, flüsterte sie stockend.

„Schon gut“, beruhigte Maja sie. „Es ist alles gut.“ Ihre Hand glitt immer wieder über ihren Kopf, bis Anne sich schluchzend an sie lehnte.  Wie lächerlich erschien ihr der Streit den sie gehabt hatten. Jetzt, wo sie es selber gefühlt hatte, verstand jede Zelle ihres Körpers das Gefühl, von etwas sosehr berührt zu werden, dass man sich selbst verlor. Und sie schämte sich, dass sie Maja nicht genauso tröstend in den Arm genommen hatte, als sie geweint hatte, weil die Musik sie ihr eigenes Sein hatte vergessen lassen.

 

 

 

 

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